Einhorn

Like every other story teller, I just fail to ignore the call of untold stories, so I narrate...

Saturday, April 12, 2008

Der Traum

Am Anfang war doch alles ganz einfach; vielleicht ist hier mit einfach nicht gleich einfach gemeint. Sagen wir einmal, es war am Anfang nicht besonders schwieriger als gewohnt: Wieder mal ein unmöglicher Traum, der sie in Aufregung versetzte und ein paar Tage dazu brachte, nachzudenken und weiter zu träumen.

So fing sie an, die passende Musik zu hören, sich anders anzuziehen, große Mengen an Obstsaft zu trinken, scharfe und exotische Parfüme zu tragen und zu tanzen.

Ach ja, tanzen: für sie die Vereinigung der Seele und der Kunst.

So bunt wie sie sich erst mal anzog, umso bunter, fabelhafter und fantasiereicher war ihre Kleidung, wenn sie tanzte. Sie band sich das Haar entweder ganz fest an den Kopf oder ließ es offen um den Nacken und um die Schultern, um so den Schwung ihrer Bewegungen besser betonen zu können. Das angewandte Licht und die harmonische Musik waren Souveniere aus einem Märchenland, da sonst keiner beschreiben konnte, wie sie das, was sie aus der Musik und aus dem Licht machte, überhaupt schaffen mochte.

Sie redete kaum. Sie sprach wenn es notwendig war, etwas zu sagen, aber von den neuen Träumen erzählte sie uns nicht.

Da war nichts. Aus unserer Sicht, ganz egal wie wir uns bemühten, hätten wir doch nichts herausfinden können. Einige meinten, sie sei verliebt; einige andere dachten, sie wolle jemanden ganz toll überraschen oder ganz gemein bestrafen; es gab sogar diejenigen, die glaubten, sie habe eine neue Gewerbeidee und bearbeit diese.

Einen Donnerstagnachmittag sagte sie plötzlich, dass ihr nach Wassermelonen war, und dann war es auf einmal da.

Der mutigste und klügste unter uns war der sommersprossige Fritz, der gleich seine zitternde Stimme anhob: “Sie will weg, fort!”. Und die Zeit blieb für die nächsten paar Stunden in seinem Satz stehen.

Keiner wagte es, irgendetwas in Worte zu gestalten, denn es hätte entweder eine Bestätigung oder Ignoranz angedeutet; und in diesem Fall war die Ignoranz mindestens ebenso unerwünscht wie die Bestätigung, da es eine noch größere und dazu sogar unablehnbare Betonung darauf war, was wir nicht wahrnehmen wollten.

Es war schwierig, ganz genau zu sagen, was das Unheil war, das man aus diesem Satz herauszuhören glaubte. Ging es um sie oder um die Tatsache vom Fortgehen? Sein Satz war jedoch von diesem Moment an da und blieb ewig in Raum und Zeit hängen, wie die Ereignisse, die jenem Moment folgen sollten.

Wir waren eigentlich nur eine komische WG. Wir fühlten uns einsam und hatten den Alltag satt. Aus diesem Grunde wollten wir mit anderen Menschen zusammen eher leben - als wohnen -. Menschen, die wir nicht gut kannten und nicht lieb hatten - und die uns deshalb nicht weh tun konnten - aber die im Stande waren, uns nicht unbedingt zu verstehen und trotzdem zu respektieren. Wir wollten einfach von der Welt draußen abschalten können.

In unserer ziemlich großen WG galten heilige Regeln, die auf keinen Fall zu missachten waren.
Keiner durfte ein eigenes Zimmer haben.
Keiner durfte anderswo übernachten, ohne einem von uns Bescheid zu geben.
Keiner durfte Wertsachen zu Hause bewahren.
Mittwochs waren Haustage: Wir kümmerten uns um das, was zu tun war und zum Abend wurde zusammen gegessen.
Die Pflanzen mussten regelmäßig gepflegt werden.
In der Küche wurde nicht geraucht.
Keine Krankheit sollte verheimlicht oder unterschätzt werden.
Keine Glaubensrichtungen oder Ideologien wurden in Frage gestellt und keine Diskussion über solche Themen durfte geführt werden.

Wir glaubten, durch diese Regeln uns zu beschützten. Diesem Glauben zufolge sollten die Regeln den Gefühlen, Leidenschaften und Intuitionen überlegen sein.

Unter anderem glaubten wir alle fest an das, was uns zuerst zusammenbrachte: Theater. Wir waren alle Theaterfanatiker die auf der Pop-Bühne keinen Platz gefunden hatten. Dienstags, donnerstags und freitags wurde am Nachmittag geübt. Alle 11 Einwohner unserer WG waren zur Teilnahme verpflichtet. Zu jedem Stück wurde zwar ein Regisseur neu gewählt, aber jeder Regisseur konnte bei jeder neuen Entscheidung durch mehr als 70% der Stimmen überstimmt werden.

Unter uns galt Gisela als eine normale Person. Manchmal konnte man nicht fassen, warum sie die Welt draußen verlassen mochte, um mit uns zu bleiben. Sie wurde oft für oberflächlich oder ahnungslos gehalten. Dieser Ansicht waren wir sowohl aufgrund von Kleinigkeiten wie der Pop-Musik, die sie hörte oder ihrer Geschmacklosigkeit für Kleidung, aber auch weil es uns bewusst war, dass sie sich nie die Gedanken machte, die uns fast jeden Tag quälten. Wir waren davon überzeugt, dass sie eher auf der Suche nach dem Sinn ihres banalen Lebens mit uns war und nicht auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, wie die meisten von uns.

Vielleicht hatte es uns gestört, wie ungestört sie ihren Blick der Zukunft widmete anstatt der Vergangenheit und der gegenwärtigen, verdorbenen Menschheit.

Nichts an ihr erregte Aufmerksamkeit mit Ausnahme ihrer Traumphasen. Jedes mal, wenn sie von einem Traum besessen war, wurde sie dadurch kreativer, lebendiger, schöner und strahlte dann vor einer unbekannten Art Lebensenergie, die sie schöner erscheinen ließ.

Sollte Gisela in den Traumphasen für die Pflanzen zuständig sein, hätte sie sich stundenlang Zeit genommen, für sie gesungen und jede mit extremer Vorsicht behandelt. Hätte sie kochen müssen, hätte es exotisch aber fabelhaft geschmeckt. Sollte einer der Kerle zu dieser Zeit mit ihr schlafen, hätte er eine Woche voller bezaubernder Träume und sänge die schönsten und atemberaubendsten Lieder. Eleonore hielt es immer für unverschämt und wurde sauer auf jeden Kerl in der WG; da sie meinte, die Kerle nutzten Gisela aus, um über ein kleines bisschen ihrer Träume zu verfügen. Gisela jedoch wurde in ihren Traumphasen unglaublich gutherzig und großzügig. Sie schien einfach aus einer anderen Erde zu kommen, wo List und Lüge keine Synonyme fanden.

So ging es uns auch mit diesem einen Traum. Am Anfang war alles so gewöhnlich, dass es gar nicht unsere Neugierde erregte, herauszufinden, wovon Gisela dieses mal träumte. Erst am vierten Tag bemerkten wir, dass die Traumphase dieses Mal extremer sein mochte. Aber auch das bedeutete für uns keinen Alarm, im Gegensatz, wir warteten umso interessierter auf die Auflösung ihres Traums.

Jener Donnerstagnachmittag beim Üben war es, als sie auf den Blocks im Proberaum sitzend ihren Wunsch nach Wassermelonen äußerte, dass wir den ersten Schlag bekamen. Fritz hatte Recht; als wir alle Gisela nach dem Ausdrücken ihres Wunsches ansahen, konnten wir es klar und deutlich auf ihrem besonders schönaussehenden Gesicht und in ihrem Blick lesen, wie sie sich nach anderswo sehnte, fern von unserer heiligen Wohngemeinschaft. Wäre dies außerhalb ihrer Traumphasen geschehen, hätten alle einfach geflucht und gesagt, sie habe eh nichts bei uns zu suchen, sie verstünde eh nichts von uns und sei es auch nicht wert. Aber die Tatsache, dass diese gerade eine ihrer schönsten und für uns bedeutendsten Phasen war, drehte all die Karten um. Schweigend waren wir alle betroffen und fragten wir uns ständig, warum jemand unseren sicheren Schutz für irgendetwas außerhalb dieser vier Wänden verlassen mochte. Doch keiner von uns wollte es glauben. Also, gemeinsam schwiegen wir und versuchten vorzutäuschen, Gisela hätte ihren Satz nie ausgesprochen.



Es war am nächsten Tag, also am Freitag, als Gisela uns nach der Erlaubnis fragte, bei der letzten Probe des gegenwärtig bearbeiteten Stückes zu tanzen. Da wir alle in der letzten Zeit zugesehen hatten, wie ihr Tanz sich zu Giselas besonderer Art von Vollkommenheit entwickelte und da sie die möglichst perfekte Stelle ausgesucht hatte, um ihren Tanz vorzuführen, konnten wir nicht anders, als ihren Vorschlag anzunehmen; jedoch unter der Bedingung, dass sie uns den Tanz vor der letzten Probe vorführe, da sie meinte, dass es vorher zeitlich nicht passte. Sie hatte nämlich jede Menge Vorbereitungen zu treffen.

Am nächsten Morgen war Gisela gleich in alle zehn Mitbewohner verliebt. Es schien uns so, als ob sie jedem einzelnen von uns ihre volle Achtung gewidmet hätte und als ob wir uns seit der Gründung unserer Wohngemeinschaft nur nach dieser Art von Achtung gesehnt hätten.

Die gebliebenen acht Tage bis zu der letzten Probe strahlte Gisela vor Freude und Leidenschaft, ihr Lächeln verließ ihr Gesicht keinen einzigen Moment und ihr Singen war im ganzen Haus zu hören, der Blick von dem Donnerstagnachmittag jedoch blieb bis zu der letzten Stunde.

Das Ende dieser neuen Traumphase war an jenem Dienstagabend vor der Probe zu spüren, als wir im Proberaum ihre Tanzaufführung erwarteten.

Es war um 20Uhr 38, nach einer 18-minütigen Verspätung, als Thomas bleich die Tür aufmachte, um uns mitzuteilen, dass Gisela im Badezimmer auf dem Boden lag und nicht in der Lage war aufzustehen.

Der Anblick der halbnackten Gisela mit schweißnassem Haar auf dem Boden war definitiv atemberaubend. Als sie bei dem Versuch, sich ohne jegliche Hilfe aufzurichten, zuckte, ähnelte sie einer untergehenden Göttin, die den Glauben ihrer letzten Anhänger zur Rettung aufzurufen versuchte. Und ich war nicht der einzige dadurch zum Stein verzauberte Mann. Dies war eher in Eleonores und Steffis bösen Blicken zu sehen, als sie Gisela zu Hilfe eilten.

Beim Verlassen des Badezimmers versprach sie uns, am folgenden Tag zur Probe energetischer als immer zu erscheinen. “Es ist der Traum.”, sagte wieder Fritz, dessen Stimme dieses Mal gar nicht zitternd ja sogar selbstsicher klang: “Er verhindert die vorzeitige Aufführung.”. So albern wie es auch klingen mag, so überzeugend kam es uns in diesem Moment jedoch vor. Um Spuren von Angst oder Unsicherheit empfinden zu können, waren wir von Giselas plötzlicher Wandlung noch zu sehr fasziniert.

Am nächsten Morgen bereitete Gisela das Frühstück zu, währenddessen sie die ganze Zeit lächelte; sprechen tat sie jedoch kaum und ihr Lachen bekamen wir nie wieder zu hören.

Giselas Tanzkostüm war nicht weniger als fabelhaft und sie selber war die Erfüllung dieser Fabel. Als sie alleine in der Mitte stand und auf die Musik wartend die Augen kurz schloss, fielen uns erst die Falten in ihrem Gesicht sowie die irritierend rote Farbe ihres Lippenstiftes auf.

Mit Beginn ihres Tanzes schienen wir jedoch schon mit Atmen und Denken aufgehört zu haben. Es war ihm nichts ähnlich, was wir vorher möglicherweise hätten gesehen oder erträumt haben können, und noch weniger war es das Ende dieses Tanzes. Bis zu den letzten zwei Minuten tanzte sie mit geschlossenen Augen und es kam uns vor, als ob sie nichts außer der Musik und ihrem Tanz wahrnehmen konnte. “Besessen von dem Traum!”, meinte Fritz dieses Mal.

Dann machte sie die Augen ganz weit auf, wie Eine, die nach einer langen Abwesendheit von der Welt der Lebendigen wieder zum Leben gerufen wurde. Den Mund machte sie auch auf. Ob sie uns etwas zu sagen hatte oder ob es nur ein stummer Schrei war, fanden wir nie heraus, denn in dem selben Moment wurden unsere Blicke abgelenkt zu den Öffnungen; bestimmte Stellen auf ihrer Haut rissen plötzlich auf. Versteinert sahen wir zu, bis Fritz mit einer klaren und unglaubwürdig deutlichen Stimme erklärte: “Jetzt hat er sie.”.

Ich sah das fließende Blut auf ihrem Kleid und ihren hilflosen Blick, schloss meine Augen und schrie aus Leib und Seele: “Raus, alle raus!”. Dann griff ich nach Fritz, um ihn aus dem Probenraum mitzunehmen.

Obwohl keiner wirklich weiß, wer den Raum abgeschlossen hat, haben wir alle Giselas Blick gesehen, als sie bewegungslos auf dem Boden lag und als ihr Kleid von ihrem Blut rot glänzte.

Ein einziger Traum war stärker als alles, was wir sein wollten, denn dieser einzige Traum schien wahrhaftiger zu sein als unser Ziel. Dieser Traum hat uns nur Gisela genommen, obschon er uns dadurch dieses wohlbedachte, neue Leben auf seine merkwürdige Art und Weise verbat. Warum oder wozu, wird uns verschlossen bleiben.